Positionspapier zur digitalen Rückverfolgbarkeit in der Fischwirtschaft und der Notwendigkeit einer Verschiebung

Hamburg, den 09.10.2025

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Ausgangslage und Zielsetzung

Die geänderte Fischereikontrollverordnung (EU 1224/2009, geändert durch EU 2023/2842) stellt die gesamte Fischwirtschaft – von der Fischerei und Aquakultur über die Verarbeitung bis zum Handel – vor erhebliche bis existenzielle Herausforderungen. Der vorgesehene Anwendungsbeginn im Januar 2026 rückt näher, während zentrale Fragen zur praktischen Umsetzung vollkommen ungeklärt sind.

Unser Verband steht hinter den Zielen der Verordnung für mehr Transparenz über die fischereiliche Herkunft und effektive Bekämpfung illegaler Fischerei. Die Branche bekennt sich ausdrücklich und tatkräftig durch seit Jahren praktizierte Selbstverpflichtung zu diesem gemeinsamen Ziel, von dem Produzenten, Verbraucher und die Meeresumwelt gleichermaßen profitieren.

Unlösbare Herausforderung für Verarbeiter und Handel

Die Anforderungen zur Zusammensetzung von Losen (Artikel 56a) und ihrer Rückverfolgbarkeit (Artikel 58) erweisen sich in der praktischen Umsetzung als hochgradig problematisch. Die jüngste Entscheidung der Europäischen Kommission, alle Verweise auf die Rückverfolgbarkeit aufgrund von technischen und praktischen Unsicherheiten aus dem Entwurf des delegierten Rechtsakts zu entfernen, verschärft die Situation dramatisch: Der Gesetzgeber hat kurzfristig die beiden einzigen Artikel, die zumindest ein wenig Klarheit in der Durchführung hätten bringen können, ersatzlos gestrichen. Damit wurde die Verunsicherung in allen Teilen der Wertschöpfungskette signifikant vergrößert.

Der vorgesehene Anwendungsbeginn ab 10. Januar 2026 für frische und gefrorene Erzeugnisse ist unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen nicht realisierbar. Fischverarbeiter und Händler befinden sich in einer rechtlich unhaltbaren Situation: Sie sind gesetzlich verpflichtet, digitale Rück-verfolgbarkeitsnachweise zu erstellen und zu übermitteln, ohne dass die dafür notwendigen technischen und rechtlichen Grundlagen definiert sind.

Wir sehen insbesondere in folgenden Bereichen schwerwiegende Verfehlungen in den rechtlichen Vorgaben:

1. Fehlende technische Interoperabilität

Das Kernkonzept eines funktionsfähigen europäischen Rückverfolg-barkeitssystems ist die Interoperabilität – die Fähigkeit verschiedener IT-Systeme, Daten nahtlos über Grenzen und zwischen unterschiedlichen Wirtschaftsakteuren auszutauschen. Die Verordnung schreibt zwar den digitalen Datenaustausch vor, legt jedoch keinen gemeinsamen technischen Standard fest. Für Verarbeiter und Händler bedeutet dies, dass sie in digitale Lösungen investieren müssen, ohne zu wissen, ob diese später den noch zu definierenden Anforderungen entsprechen werden.

Die große Vielfalt an Unternehmensgrößen und -strukturen in der Lieferkette erfordert flexible Lösungen, aber ohne definierte Interoperabilitätsstandards droht ein Flickenteppich inkompatibler nationaler oder unternehmenseigener IT-Systeme. Dies würde den grenzüberschreitenden Handel faktisch unmöglich machen und zu erheblichen Fehlinvestitionen in Technologien führen, die nicht miteinander kommunizieren können. Die Entwicklung kompatibler Standards erfordert Zeit und eine umsichtige Regulierung – beides fehlt derzeit vollständig.

2. Die Lücke bei der Kleinfischereiflotte

Fischereifahrzeuge unter 12 Metern Länge, die den Großteil der EU-Flotte ausmachen, müssen erst ab 2028 digitale Rückverfolgbarkeit implementieren. Erstkäufer, Verarbeiter und Großhändler sind jedoch bereits ab Januar 2026 verpflichtet, digitale Rückverfolgbarkeitsnachweise zu erstellen – für Produkte, die von Schiffen stammen, die selbst noch keine digitalen Daten liefern können. Die Rückverfolgbarkeitskette ist damit bereits an ihrem ersten Glied unterbrochen.

3. Mangelnde Flexibilität der Losfassung

Die tägliche Praxis der Fischverarbeitung erfordert flexible und routinemäßige Bildung sowie Aufteilung von Losen. Die Verordnung sieht zwar die Losfassung entlang der gesamten Wertschöpfungskette vor, bietet aber kaum praktikable digitale Dokumentationsmöglichkeiten. Ohne harmonisierte Leitlinien können Verarbeiter und Händler ihrer gesetzlichen Verantwortung zur Rückverfolgbarkeit nicht rechtskonform nachkommen. Dies führt dazu, dass Produkte mit unvollständigen oder nicht standardisierten digitalen Informationen von Käufern und Kontrollbehörden abgelehnt oder beschlagnahmt werden, was zur Verschwendung von Lebensmitteln und zur Störung etablierter Lieferketten beiträgt.

4. Unverhältnismäßige Belastung für KMU

Die Verpflichtung, ohne klare technische Anforderungen in digitale Systeme zu investieren, trifft kleine und mittelständische Betriebe besonders hart. Ohne rechtliche Vorgabe von technischen Standards müssen sie die Erfassung von Daten aus dem Ursprung händisch darstellen und die gewonnen digitalen Rückverfolgbarkeitsdaten in unterschiedliche, nicht miteinander kompatible Systeme und Portale einpflegen. Sie werden hier im Vergleich zu großen, vertikal integrierten Unternehmen wenigstens doppelt belastet und im Wettbewerb um Kunden und Lieferverträge benachteiligt.

5. Wettbewerbsnachteil für Importeure

Der Groß- und Außenhandel für Fischerzeugnisse wird mit zusätzlichen Kosten und Unsicherheiten beim Import belastet. Auf Grund des Aufwuchses von bürokratischen Vorgaben und Dokumentationsaufwänden bei der Einfuhr wird die EU ein zunehmend unattraktiver Absatzmarkt für wichtige Rohwaren-lieferanten. Dies schwächt die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten europäischen Fischwirtschaft auch gegenüber Nachbarsektoren der Lebensmittelwirtschaft im Inland, für die keine vergleichbaren Regelungen gelten. Außerdem sind durch die ungeschützte und unmotivierte Offenlegung von Informationen über Handelspartnerschaften entlang der Lieferkette weitere geschäftsschädigende und wettbewerbsverzerrende Effekte zu befürchten. Dies trägt in erheblichem Maße zu einer verringerten Selbst-versorgung von im Inland verarbeiteten Lebensmitteln bei und schwächt Resilienz und Wirtschaftskraft unseres Lebensmittelversorgungssystems.

6. Verfehlung der Gesetzesziele

Statt mehr Transparenz und Harmonisierung entstehen durch die neuen Vorgaben Unsicherheit und Fragmentierung im Markt. Die Bekämpfung illegaler Fischereipraktiken wird durch ein solch dysfunktionales System nicht gestärkt. Das zeigt sich auch daran, dass mit diesen Vorgaben aus dem Rechtsgebiet der Fangfischereiregulierung auch erhebliche Vorgaben auf die Erzeugung in Aquakulturen und Binnenfischerei übertragen werden. Sie sind für diese Betriebe und deren Lieferkette weder sinnstiftend noch zielführend. Stattdessen sollte der Gesetzgeber die Zielsetzung klar im Fokus halten und wirksame Maßnahmen gegen IUU an einer Stelle und effektive Rückverfolgbarkeitsvorgaben für Lebensmittel an anderer Stelle regulieren.

Das zeitliche Dilemma und das Eingeständnis des Gesetzgebers

Die Europäische Kommission hat im Mai 2025 eine umfassende Studie über realisierbare Rückverfolgbarkeitssysteme in Auftrag gegeben. Der Abschluss-bericht wird jedoch erst Ende 2026 erwartet – fast ein Jahr nach dem vorgeschriebenen Umsetzungstermin. Dies ist ein faktisches Eingeständnis, dass die notwendigen Grundlagen für eine sachgerechte Umsetzung noch nicht existieren. Es ist weder wirtschaftlich noch rechtlich vertretbar, von der Fischwirtschaft die Einhaltung einer Vorschrift zu verlangen, bevor die dafür erforderlichen Erkenntnisse vorliegen.

Forderung: Dreijähriger Aufschub und Beibehaltung bewährter Regelungen

Noch ist es nicht zu spät, hier einzugreifen, Schaden abzuwenden und die Zielerreichung zu sichern. Parallelen zur Entwaldungsverordnung zeigen: Entschlossenes Handeln kann unrealistische Umsetzungsfristen korrigieren und damit sowohl die Wirtschaft schützen als auch die Zielerreichung der Verordnung sicherstellen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in Brüssel mit Nachdruck für eine befristete Aussetzung der Rückverfolgbarkeits-anforderungen gemäß Artikel 56a und 58 für einen Zeitraum von drei Jahren einzusetzen.

Konkret bedeutet dies:

  1. Aussetzung bis Januar 2029: Diese Frist verschafft die notwendige Zeit, um die erforderlichen Gesetzesgrundlagen praxisrelevant zu formulieren und den Unternehmen die erforderliche Vorlaufzeit für die Umsetzung zu geben. Mit dem Anwendungsdatum Januar 2029 wird zusätzlich ein einheitlicher Anwendungsbeginn für alle Fischprodukten im europäischen Markt erreicht, da dann nicht nur frische, gefrorene und geräucherte, sondern auch verarbeitete Produkte betroffen sind. Auch die Kleinfischereiflotte ist dann mit an Bord.
  2. Fortgeltung bewährter Regelungen: Im Zeitraum von Januar 2026 bis zum neuen Anwendungsbeginn können die bisherigen Regelungen der aktuellen Fischereikontrollverordnung und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 404/2011 für den Markt Rechtskontinuität sichern und ein Regulierungsvakuum wird verhindert.
  3. Evidenzbasierte Neugestaltung: Die laufende Studie muss abgeschlossen und ihre Ergebnisse von allen Interessengruppen gründlich analysiert werden. Auf dieser Grundlage müssen die bereits angekündigten Arbeitsgruppen unter Beteiligung von Experten aus Verarbeitung, Handel und Fischerei einen soliden, praktischen und rechtlich einwandfreien Rechtsrahmen ausarbeiten.
  4. Festlegung eines realistischen Umsetzungszeitplans: Nach Verabschiedung des delegierten Rechtsakts muss ein neuer, realistischer Zeitplan festgelegt werden, der den Unternehmen ausreichend Zeit für die Implementierung der dann klar definierten Anforderungen gibt.
Sollte eine Aussetzung nicht sichergestellt werden können oder zusätzliche Klärung in der delegierten Verordnung rechtzeitig vor Geltungsbeginn erreicht werden, muss die Verordnung gänzlich aufgehoben und überarbeitet werden. Ein dysfunktionales Gesetz, das seine eigenen Ziele verfehlt und erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichtet, dient niemandem.

Verantwortung und Zusammenarbeit

Die Bundesregierung muss die EU-Kommission in die Pflicht nehmen, sich ihrer Verantwortung gegenüber insbesondere kleinen und mittelständischen Betrieben bewusst zu werden. Diese sind von den Unsicherheiten am stärksten betroffen.

Unser Verband und seine Mitglieder stehen dem Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat sowie der Bundesregierung gerne tatkräftig und beratend zur Seite, um bei einer Überarbeitung der europäischen Gesetzestexte mitzuwirken. Wir bringen unsere praktische Expertise ein, um sicherzustellen, dass die überarbeiteten Regelungen sowohl die legitimen Kontrollziele erreichen als auch wirtschaftlich umsetzbar sind. Wir widmen diesem Thema unsere höchste Aufmerksamkeit.

Dringlichkeit: Jetzt unverzüglich handeln

Es muss jetzt unverzüglich gehandelt werden. Wir appellieren an die Bundesregierung, sich mit der gleichen Entschlossenheit wie bei der Entwaldungsverordnung für eine Lösung einzusetzen, die sowohl die Fischwirtschaft schützt als auch die wichtigen Ziele der Fischereikontrolle langfristig sichert.

Die Fischereikontrollverordnung kann und muss ihre ambitionierten Ziele erreichen – aber nur, wenn sie auf soliden, praxistauglichen Grundlagen basiert. Eine Verschiebung ist keine Verzögerung wichtiger Kontroll-mechanismen, sondern die Voraussetzung für ihre erfolgreiche und dauerhafte Implementierung.

Der Bundesverband der deutschen Fischindustrie und des Fischgroßhandels e.V. (BVFI) ist die Interessenvertretung der in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Mitgliedsunternehmen aus den Bereichen Fischverarbeitung, Fischimport und Fischgroßhandel. Er vertritt 125 Mitgliedsunternehmen (Stand 01.01.25). Der Bundesverband erreicht im Bereich der Verarbeitung bei den Unternehmen mit einer Beschäftigtenanzahl von mehr als 50 Beschäftigten eine Abdeckung von 95 % sowie über 80 % bei den Unternehmen des Großhandels. Der von den Mitgliedern generierte Produktionsumsatz betrug im Jahr 2021 zwischen 1,53 Mrd. € und 1,75 Mrd. €. Der BVFI wurde am 16.9.1903 in Hamburg-Altona gegründet und unterstützt seitdem seine Mitglieder in Fragen der Gesetzgebung, Vermittlung von Auslegungshinweisen und ist Ansprechpartner für Presse, Ministerien und Behörden. Er ist mit der Registernummer R007116 im Lobbyregister des Deutschen Bundestages eingetragen.

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